D. Interview - 100 Tage
·
Wo bist du gerade – und wie
weit bist du auf deinem langen Weg nach Assisi schon gekommen?
o Im Moment bin ich noch im schönen Mysore im Südwesten. Das liegt auf direkten Wegen etwa 300 Kilometer vom Bodhi Zendo, dem Ausgangspunkt, entfernt. Tatsächlich bin ich bisher gut 500 Kilometer gegangen.
·
Ist die Pilgerreise nach
100 Tagen noch interessant?
o
Ja. Auch wenn sich viele
Erlebnisse ähneln, so gibt es doch immer wieder Überraschugen.
· Was ist ein ganz besonderes Erlebnis bisher gewesen?
o
Eine Sache war sehr
spannend. Das war der Grenzübergang von Tamil Nadu nach Kerala. Ich war
tagelang zuvor angespannt wegen des nicht vorhandenen Impfnachweises und wollte
wie ein Schmuggler heimlich über die Grenze. Am Ende kam es anders und ich
erfuhr eine neue innere Freiheit in meinem Bauch. Näheres ist im 26. Bericht
beschrieben.
o
Überhaupt: Meine
ängstlichen Begegnungen mit der Polizei waren am Ende alle supergut
ausgegangen.
· Wird es nicht irgendwann langweilig?
o
Meistens erlebe ich einen
Alltag mit Vor- und Nachteilen wie andere Leute das auch haben. Aber Gott bzw. das
Leben ist kreativ und ich werde oft positiv überrascht. Wichtig aber, auch in
den „Trockenzeiten“ glaube ich an die Idee dieses Pilgerweges. Mir kommt ein
seltsamer Vorteil zu Gute: Ich bin nun in einem Alter, in dem man gewöhnlicher
Weise seine Hörner abgestoßen hat. Das heißt, dass ich keinen inneren Druck
mehr habe, beruflich oder familiär etwas aufbauen zu sollen. Das entspannt. Bei
meinen früheren Pilgerreisen hatte ich immer das Gefühl, das ist jetzt eine
besondere, aber vorübergehende Zeit. Jetzt muss gar nichts mehr passieren –
alles ist ok – im Großen und Ganzen jedenfalls.
· Andere in deinem Alter freuen sich nun auf ein ausgesorgtes Rentnerdasein.
o
Das ist schön für sie.
Mögen sie es tief genießen.
· Wäre es für dich nicht auch schön, abends im schönen Garten deines Hauses
mit einem Glas Rotwein auf einer Bank zu sitzen und Familie oder Freunde zu
Besuch zu haben?
o
Ja, ehrlich, das stelle
ich mir wirklich schön vor und wünsche es mir manchmal so. Auch andere
Bequemichkeiten würde ich gerne öfters genießen – ein weiches Bett und gutes
Essen und gute Musik. Aber jeder von uns
wird sagen können, dass es nicht an
solchen Annehmlichkeiten hängt, ob man wirklich erfüllt ist oder nicht. Wer
sein Glück vom materiellen Versorgtsein oder vom Dasein lieber Menschen abhängig
macht, läuft Gefahr, irgendwann auf seinem Sterbebett zu liegen und sich zu
wundern „War das jetzt alles!?“
· Ah, höre ich da etwas Arroganz durch?
o
Haha. Klar! – Ich kann selber
sagen, dass ich noch lange nicht wirklich erfüllt bin. Wenn ich heute sterben müsste, würde
ich mich ärgern. Ich habe das Gefühl,
noch gar nicht richtig im Leben drin zu sein. Ich meine damit, ganz in der
Gegenwart da zu sein: Die Dinge und Menschen und vor allem mich so sein zu
lassen, wie es ist. Mit den Gedanken weder in der Zukunft noch in der Vergangenheit noch
in kreativen Gedankenspielen zu turnen sondern wunschlos das Heilige im
gegenwärtigen Moment erleben. Das ist das Wesentlichere. Ich hatte es früher in manchen Situation erlebt. Und ich arbeite daran, es wieder
zu erfahren und möglichst lange in diesem Zustand des reinen, gedankenfreien
Daseins zu verweilen.
· Wie denkst du über das Sterben?
o
Hm. Furcht habe ich, weil
ich nicht weiß, wie es sich anfühlen wird, aber mein ganzes Dasein gewaltsam
rausreißen wird. Das wird erschreckend sein. Naja, man kann das positiv sehen:
Der Moment des Sterbens wird neben der Geburt der spannendste Moment unseres
Lebens sein. An die Geburt kann ich mich
nicht erinnern. Aber ich hoffe, beim Sterben klar im Kopf zu sein und den
wundersamen Übergang in ein anderes Dasein staunend und mit zitterndem
Vertrauen mit zuerleben.
· Ah, du weißt schon, dass das Todsein gut sein wird?
o
Es muss wohl so sein. Von
so Vielen, die für paar Momente klinisch tot waren, hört man, dass sie sich
wunderbar gefühlt hatten. Manche hatten gar keine Lust, wieder in ihren Leib zurückzukommen.
o
Und noch etwas, von was
ich überzeugt bin: Wenn unsere Seele oder unser wahres, göttliches Selbst aus
dem Körper austreten wird, wird genau das möglich, nach was sich jetzt schon manche sehnen: Ohne zu denken einfach
nur dasein. Das Gehirn ist tot und das Denken wird aufhören - und das wird sehr
gut sein.
· „Ich denke, also bin ich“ sagte Descartes. Ist ohne Denken überhaupt ein
Dasein möglich?
o
Man kann sicher sagen, dass
ohne Denken unser Ego verlöschen wird. Aber unser Ego bzw Denken ist eh nur der
oberflächliche Teil des Daseins. Das Denken ist ein Produkt aus Erziehung,
Wünschen & Abneigungen und Fremdeinflüssen, besonders Medienmanipulationen.
– Aber wo ist eigentich gerade unser tiefersitzendes, ewiges Selbst, das wir vor der Geburt waren und nach
dem Tod wieder sein werden?
· Haben sich deine Erwartungen an die Pilgerreise nach den ersten hundert
Tagen verändert?
o
Nein. Drei Dinge hatte ich
mir vorgenommen. Sie sind deutlicher geworden.
o
Die innere Reinigung
steht nach wie vor an erster Stelle. Sooft ich „Müll“ in mir wahrnehme,
versuche ich ihn objektiv, gedankenfrei zu beobachten und innere Befreiungen zu
erleben. Es funktioniert – und ist doch so schwer!!! Nach wie vor entdecke ich „Knotensalate“,
die mich gefangenhalten und das Gute in mir unterbinden. Auch erfahre ich viele
ungeheilte Verletzungen und Aggressionen,
im Besonderen gegen meine längst verstorbene Mutter. Aber es wird schon besser.
Am meisten leide ich unter meiner häufigen Nichtgroß-Zügigkeit: Andere Leute
tun mir oft Gutes und beschenken mich mit mehr, als ich brauche. Wenn dann
jemand etwas von mir möchte, bin ich oft
unbarmherzig – ich könnte viel mehr geben. Wenn ich in einem Geschäft mal scheinbar übervorteilt
werde, bilden sich in mir schnell neue Aggressionen. – Das braucht also noch
Zeit. Und Barmherzigkeit gegen sich selber, was überhaupt nicht einfach ist.
o
Die zweite wichtige
Erwartung auf dem Weg ist das spürbare Näherkommen an die eigene göttliche
Wirklichkeit. Ich möchte anders im Hier & Jetzt sein. Hier erfahre ich
viel Auf und Ab. Beides ist wichtig. Die Down-Phasen müssen wohl sein, um das
falsche, aufgeblasene Ego zu ermürben. Danach kommen mit großer Sicherheit
wieder Gnadenschübe, in denen mich etwas innerlich in eine gute, unerwartete
Richtung vorangeschubst.
o
Die Pilgerreise steht im Zeichen des Vertrauens in das Gute im Leben.
Ich kann nicht einschätzen, ob mein Weg eine
vertrauensfördernde Wirkung auf Andere hat. Es gibt viele Leute, die über diese
Pilgerreise staunen, aber äußerlich sieht es so aus, dass es für die meisten
nur wichtig ist, ein Selfie mit einem Exoten gemacht zu haben und ihren Leuten
etwas Besonderes erzählen zu können. Auch die Wirkung auf die Leser dieses
Blogs ist mir unklar. Die wenigen Rückmeldungen, die ich erhalte, klingen wenigstens interessiert.
· Bist du enttäuscht?
o
Naja, als Sämann ist
man kein Herr der Ernte. – Selber bin ich freier geworden
und bekenne mehr Farbe. In Gesprächen kann ich z.B von innen heraus dafür stehen, dass ein Virus ein Teil der natürlichen Schöpfung ist und ich seiner „Bestimmung“
traue. Auch wenn ich weder an Covid oder an sonst etwas erkranken möchte – die
Widernisse des Lebens sind immer eine Chance zu positiven, tieferen Erfahrungen. Dafür stehe ich. Um mich herum sehe ich
auch klarer: Nicht der Virus ist das große Problem, sondern die Ängste. Ich hoffe, dass mehr Menschen lernen, ihre Ängste bewertungsfrei anzusehen, anstatt sie zu übertünchen oder davor wegzulaufen.
· Deine Ersparnisse sind nun aufgebraucht. Wie geht es weiter.
o
Dank einiger kleiner und
großer Spender hatte ich immer ein wenig Geld auf dem Konto. In Deutschland
könnte ich vielleicht nochmal Geld verdienen oder staatliche Unterstützung beantragen. Aber
das ist jetzt nebensächlich geworden. Ich vertraue, dass weiterhin ausreichend
Spenden fließen oder der Himmel sich anderweitig um mich kümmern wird.
· Dein Visum-Status ist ja grade wieder ungeklärt. Eigentlich müsstest du schon aus dem Land raussein.
o Wie schon schmal gesagt: Ich bin bereit, alle Konsequenzen zu tragen. Ich merke, dass dieses Pilgerdasein mein „Ding“ ist und ich werde es so lange wie möglich fortsetzen. Indien ist dafür ein wunderbares Land. Petra, meine Freundin, schrieb dazu in einer Widmung „Indien ist eine spirituelle Mutter“. Das ist so.
·
Ralle, cooles Interview. Es gibt nicht viele, die den unbequemen Weg gehen. Aber was heißt hier unbequem? Das ist ja gerade das Schöne, dass man mit wenig auskommt und nicht viel braucht, um glücklich und erfüllt zu sein. Ich ziehe den Hut, Chapeau! Arbeite weiter an dir, speziell an der Nichtgroß-Zügigkeit. Dieses Problem kenne ich nur zu gut. Bleib aufrecht und geh deinen Weg! Schöne Grüße von einem Kollegen aus Frankfurt und St. Andreasberg
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